Stretching: Seit Jahrzehnten völlig überschätzt

Vorher, nachher und am besten auch noch zwischendurch. Kaum ein Sportler, der in den letzten Jahrzehnten nicht viele Stunden mit Stretching verbracht hat. Oft vertane Zeit, wie eine Studie der Universität Jena gezeigt hat. Stretching wurde völlig überschätzt, kann sogar die Leistungsfähigkeit verringern. Andere Maßnahmen sind da viel besser geeignet.

Stretching wurde einer Studie zufolge lange unterschätzt

Keine wissenschaftlichen Studien zum Stretching

Vor rund 30 Jahren begann die Erfolgsgeschichte des Stretchings. Die Botschaft schien einleuchtend: Die Muskeln ziehen sich bei Gebrauch zusammen, und da wir uns, anders als Tiere, nicht in alle Richtungen bewegen, verkürzen sich unsere Kraftpakete – es sei denn wir dehnen sie regelmäßig. Stretching entspannt, verbessert die Koordination, schützt vor Verletzungen und erhöht die Leistungsfähigkeit – so die Botschaft, die millionenfach weitergegeben wurde. Problem dabei: Wissenschaftliche Beweise lies man beiseite. Nicht weil man sie verschweigen wollte. Nein, es gab schlicht keine. Bis die Universität Jena das Thema Stretching endlich genauer unter die Lupe genommen hat.

  • Sie befragten 139 Fußballspieler (Profi- und Nachwuchsspieler) zu ihrem Training.
  • Ziel war es herauszufinden, welche Maßnahmen die Sportler unternehmen, um Verletzungen vorzubeugen.
  • 91 Prozent der befragten Athleten gab an, dass sie vor jedem Training und vor jedem Spiel ein Dehnprogramm durchführen. Das tun sie aus der Überzeugung heraus, damit Verletzungen vorzubeugen.
  • Dann haben die Jenaer die Krankendaten der Spieler genauer untersucht.

Kein positiver Effekt durch Stretching

Ergebnis der Studie: Auch die Wissenschaftler der Universität Jena konnten keinen wissenschaftlichen Beweis für einen positiven Effekt des Stretchings finden. Im Gegenteil: Wer vor einem Training oder einem Wettkampf dehnt, muss sogar mit Leistungseinbußen rechnen. Vor allem Sprung- und Sprintleistungen leiden deutlich messbar. Glücklicherweise gibt es eine vernünftige Alternative: ein so genanntes sensomotorisches Training. Mit Sprung-, Balance- und Stabilisierungsübung lassen sich nicht nur Verletzungen vorbeugen, auch die Leistungsfähigkeit der beanspruchten Muskulatur erhöht sich. Das gilt insbesondere für Sportler, die schon mal mit Verletzungen zu tun hatten. Höchste Zeit also, sich das sensomotorische Training mal etwas genauer anzuschauen:

Stretching wurde lange völlig überschätzt
Stretching ist nicht so effektiv, wie lange vermutet (Foto: adpic)
  • Ein sensomotorisches Training ist ein koordinatives Training zur Verbesserung von Bewegungsabläufen.
  • Es soll zum einem zu einer Verbesserung der Koordination aller an einer Bewegung beteiligten Muskeln kommen (intramuskuläre Koordination), zum anderen zu einer besseren Koordination innerhalb eines Muskels (intramuskuläre Koordination). Man ist dann in der Lage, die gleiche Leistung mit weniger Energie abzurufen.
  • Koordination selbst ist die Fähigkeit, vorhersehbare und vor allem auch unvorhersehbare Situationen sicher und mit geringstmöglichem Muskeleinsatz zu bewältigen.
  • Fazit: Bewegung und Koordination entwickeln sich aus dem Zusammenspiel der Sinne mit möglichst vielen Körperbewegungen. Das Gehirn lernt, aus den zahlreichen Botschaften von den Rezeptoren die am besten geeigneten Bewegung- und Haltungsprogramme zu entwickeln.
  • Je gezielter und regelmäßiger wir mit unserem Körper üben, desto größer wird das körperliche Bewusstsein. Sowohl das psychische als auch das physische Gleichgewicht stabilisiert sich und unser Leistungspotential nimmt zu.
Stretching reduziert die Leistungsfähigkeit vor einem Wettkampf
Vor einem Wettkampf ist es besser kein Stretching zu machen

Sensomotorisches- oder propriozeptives Training?

Für ein  sensomotorisches oder propriozeptives Training gibt es mittlerweile zahlreiche gute Möglichkeiten. Besonders effektiv sind Übungen auf einer labilen Unterlage. Ideal sind spezielle Schaumstoffmatten. Für Anfänger reicht zunächst auch ein großes und zusammengefaltetes Handtuch. Beid- und einbeinige Übungen stellen auf diesen instabilen Unterlagen eine besondere Herausforderung für Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenke dar, weil Nerven und Muskeln bei jeder Bewegung blitzschnell reagieren müssen, um das Gleichgewicht zu halten und den Körper zu stabilisieren.

  • Die Koordination verbessert sich und, noch wichtiger, es werden auch jene tief liegenden Muskeln erreicht, die man mit einem herkömmlichen Krafttraining nicht aktivieren kann.
  • Diese autochthonen Muskeln sind vom Willen unabhängig und sie balancieren unseren Körper ständig aus, ohne dass wir etwas davon merken. Außerdem sind diese Muskeln der beste Schutz vor Rückenschmerzen.

Instabile Unterlagen nutzen

Ein effektives sensomotorisches Training ist dank neuer Geräte, Utensilien oder clever umgestalteter Hanteln mittlerweile auch im Krafttraining möglich:

  • Viele Kraftübungen, wie beispielsweise Kniebeugen, kann man auch auf einer instabilen Unterlage durchführen.
  • Zahlreiche Kraftübungen sind mit einem Schlingentrainer möglich.
  • Außerdem ist es möglich mit Langhanteln zu trainieren, wenn man diese nicht fest einklemmt, sondern an Seilen aufhängt.

Stretching nicht völlig verteufeln

Zum Abschluss noch ein Wort zum Stretching, denn völlig verteufeln muss man die Dehnübungen nicht. Sie verbessern definitiv die Beweglichkeit durch eine Längenzunahme der Muskulatur. Dort, wo die wichtig ist, etwa Kunstturnen, bei der Rhythmischen Sportgymnastik oder dem Eiskunstlaufen bringt Stretching selbst unmittelbar vor dem Wettkampf noch eine Leistungsverbesserung. Anders sieht das bei Schnellkraft- oder Kraftausdauerleistungen aus, wie die Jenaer eindrucksvoll nachweisen konnten: Hier vermindert Stretching die Leistungsfähigkeit.

Besser sind sportarttypische Bewegungen

Allgemein gilt: Läufer, Radfahrer, Fußballer, Kraftsportler und Bodybuilder müssen nicht dehnen. Für sie ist es empfehlenswerter, sich ausreichend aufzuwärmen und dabei schon sportarttypische Bewegungen mit geringerer Intensität durchzuführen. Wer sich im Winter die alpinen Skirennen anschaut, hat sicher schon gesehen, wie intensiv sich Athleten wie Felix Neureuther oder Marcel Hirscher mit Therabändern und instabilen Unterlagen auf die Rennen vorbereiten. Gestretcht wird da nicht mehr.

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